Frühjahr 1888 14 [101-227]
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Gegenbewegung: Religion
Moral als Versuch, den menschlichen Stolz herzustellen
Die Theorie vom “freien Willen” ist antireligiös. Sie will dem Menschen ein Anrecht schaffen, sich für seine hohen Zustände und Handlungen als Ursache denken zu dürfen; sie ist eine Form des wachsenden Stolzgefühls
Der Mensch fühlt seine Macht, sein “Glück,” wie man sagt: es muß “Wille” sein vor diesem Zustand,—sonst gehört er ihm nicht an
die Tugend ist der Versuch, ein Faktum von Wollen und Gewollt-haben, als nothwendiges Antecedens vor jedes hohe und starke Glücksgefühl zu setzen
wenn regelmäßig der Wille zu gewissen Handlungen im Bewußtsein vorhanden ist, so darf ein Machtgefühl als dessen Wirkung ausgelegt werden
Das ist eine bloße Optik der Psychologie: immer unter der falschen Voraussetzung, daß uns nichts zugehört, was wir nicht als gewollt im Bewußtsein haben
Die ganze Verantwortlichkeitslehre hängt an dieser naiven Psychologie, daß nur der Wille Ursache ist und daß man wissen muß, gewollt zu haben, um sich als Ursache glauben zu dürfen
der Mensch darf nur vor sich Achtung haben, sofern er tugendhaft ist.
Kommt die Gegenbewegung: die der Moralphilosophen, immer noch unter dem gleichen Vorurtheile, daß man nur für etwas verantwortlich ist das man gewollt hat.
Der Werth des Menschen als moralischer Werth angesetzt: folglich muß seine Moralität eine causa prima sein
folglich muß ein Princip im Menschen sein, ein “freier Wille” als causa prima
Hier ist immer der Hintergedanke: wenn der Mensch nicht causa prima ist als Wille, so ist er unverantwortlich,—folglich gehört er gar nicht vor das moralische Forum,—die Tugend oder das Laster wären automatisch oder machinal ...
In summa: damit der Mensch vor sich Achtung haben kann, muß er fähig sein, auch böse zu werden